Dienstag, 19. März 2024
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Kolumne #6

Weil ich mich schäme

Irma, meine liebste Freundin, kommt in einem karierten Hemd und gestreiften Shorts ins Café. Sie sieht aus wie ein Schmetterling als Raupe verkleidet.

"Die Streifen machen dich nicht eben schlank", witzle ich.

Irma verzieht ihr Gesicht und reicht mir zur Begrüßung die Hand. "Nörglerin!", sagt sie.

"Ich, eine Nörglerin", rufe ich empört. "Darf ich meine Meinung nicht sagen?"

Irma küsst meinen Handrücken und meint: "Konstruktive Kritik ist die Infragestellung der kritisierten Materie mit der Bereitschaft zur Offenheit für neue, unerwartete Impulse."

Wütend erwidere ich: "Rede bitte deutsch mit mir. Seit wann passen rote Streifen zu orangenen Karos?"

Irma lässt sich nicht beirren: "Das meine ich eben, warum ist Rot mit Orange oder Vierecke mit Strichen hässlich?"

Ich schüttele mich, als würde eine Made über meinen Arm kriechen und entgegne: "Seit wann ist so ein scheussliches Outfit chic? Das war es noch nie. Das kann dir jede sagen!"

Die Bedienung hat Milch und Zucker zum Kaffee vergessen und als sie die Sachen endlich bringt, ist meine schwarze Brühe erkaltet. Allerdings traue ich mich nicht, mich zu beschweren. Muss eine alles schlucken, nur um keine Nörglerin zu sein? "Lässt du dir den Kaffee gefallen?", fragt Irma und fügt hinzu: "So eine Brühe ist etwas anderes, als sich über meinen Kleidungsstil zu mokieren."

Empört setze ich mich auf: "Du gehörst also auch zu den Frauen, für die das erste Gebot gesellschaftlichen Umgangs `Du sollst nicht kritisieren` heißt." Ich tröste mich, da kalter Kaffee ja schön macht.

Irma zupft an ihren Shorts: "Ich mag es zu kritisieren und kritisiert zu werden. Solange wir dabei über eigenes Denken und Handeln reden." Sie fragt: "Wer behauptet, dass Kariert und Gestreift nicht zusammenpassen?"

Ich zucke die Schulter. Es ist mir zu blöd, über hässliche Schöngeisterei zu diskutieren. Irma ruft die Serviertochter herbei und bestellt betont einen heißen Kaffee. Zu mir sagt sie: "Nur weil sich niemand so anzieht wie ich, bist du nicht im Recht. Du hast nicht das bessere Argument, weil mich niemand schön findet."

Ich setze ein Lächeln auf und antworte brav: "Also gut, zieh dich an wie du willst und was du willst. Ich werde nichts mehr dazu sagen."

Irma stöhnt auf und schüttelt den Kopf. "Du willst nicht verstehen."

Ich spiele mit dem Henkel der Tasse und denke: "Dazu habe ich auch keine Lust." Irma dreht Däumchen und meint: "Solange du deine Meinung in Frage stellen lässt, darfst du mir alles sagen."

Ich sehe es an ihrem verzogenen Gesicht, dass sie an ihre Kindheit denkt. An ihre Eltern, die an ihr herumnörgelten: "Iss nicht mit vollem Mund, dreh die Zahnpastatube zu und überschwemm` das Badezimmer nicht." Ihre Eltern ließen ihr nie die Freiheit eigen zu sein. Sie fragten nicht danach, was an ihren Ermahnungen gefährlich sein könnte und warum man es nicht tut. Später versuchten ihre Freundinnen sie zu ändern - und eine davon bin ich. Warum versteht Irma mich nicht? Ich schäme mich, wenn sie sich so hässlich kleidet, und schaue verstohlen ins Café, ob wir beobachtet und dabei ausgelacht werden.