Muss sie denn so schleichen? "Hopp, Irma." Meine beste Freundin bleibt prompt stehen. "Wieso denn? Wir sind viel zu früh dran." Wenn wir vor der Zeit da sind, denke ich, können wir noch E-Mails checken. Und dann in aller Ruhe die Kegel schieben. Irma bemerkt mein Zögern. "Liebe Mette, wir haben frei. Es reicht doch, im Job die Zeit zu stemmen."
Eine Oma am Stock überholt uns. Schnaufend zerrt sie einen dieser Hackenporsches hinter sich her und wispert. "Jetzt noch zu Aldi und zum Supermarkt und dann zum Friseur." Genau. Nur keine Zeit verplempern. "Jetzt komm endlich, Irma!" Ich sehe sie schon Wurzeln schlagen. Ranken schlingen sich um ihre Schuhe und versuchen, sie in den Abgrund zu ziehen. Ihr scheint das völlig egal zu sein, sie bewegt sich nicht vom Fleck. Nur die Hand geht in Richtung Jackentasche. Oh bitte nicht, bitte lass die Brille stecken! Nichts da, sie setzt das Horngestell auf die Nase und hebt zu einem Vortrag an. "Das Botenwesen", sagt sie, "die Baumwollspinnmaschine und der Benzinmotor. Alles sparte Zeit."
Was interessieren mich diese ollen Kamellen! Das Auto hat längst das Pferd ersetzt, die E-Mail das Briefeschreiben und Speeddating durchzechte Nächte.
"Hallo, Irma, komm zu mir. Hüpf hinein ins 21. Jahrhundert."
Jetzt fängt sie auch noch an, die Brille zu putzen! Und schon doziert sie weiter.
"Alle Neuerungen der letzten 500 Jahre hatten das gleiche Ziel. Die Erfindung des Fließbands, das Fernsehen, Fastfood und Flugzeuge. Unter dem Deckmantel der Entlastung haben all diese Innovationen nur das Tempo im Leben jedes einzelnen Menschen erhöht."
Stehen, sitzen, essen und fliegen. Immer weiter, immer schneller und immer mehr. So ist es, das Leben: intensiv und rasant. Irma lehnt sich an eine Litfasssäule.
Langsam aber sicher werde ich zappelig. Die Bahnhofsuhr rast ohne Gnade auf die verabredete Zeit zu. "Liebe Irma, musst du denn ausgerechnet jetzt so trödeln? Ich will die anderen nicht warten lassen." Mein Finger deutet auf die großen Zeiger über uns.
"Die Schweizer haben die genauesten Uhren. Ein Zeichen für ihr Lebenstempo. Es gehört zu den schnellsten der Welt", sagt Irma. "Und kein Mensch weiß, warum sie so hetzen. Am wenigsten sie selbst. Sie merken es nicht einmal."
Ich und hektisch? Bloß weil ich pünktlich sein will? Ich seufze.
"Was ist denn nur los mit dir? Wenn du keine Lust aufs Kegeln hast, dann sag es doch einfach."
Irma schüttelt den Kopf. "Ich möchte sie nur kurz anhalten, diese Zentrifuge der Zeit. Ich bin es leid, immer Schritt halten zu müssen. Aber wenn es nur das wäre! Denn nicht nur das Tempo zieht an, es soll auch alles möglichst gleichzeitig stattfinden. Und zwar im Galopp. Gemütlich kegeln und dabei simsen, twittern, facebooken, telefonieren und was nicht noch alles. Als könnten wir sonst etwas verpassen. Ich möchte mich dir einmal wieder voll und ganz widmen. Nur dir. Nur für einen Moment."
Ja, wenn das so ist! Ich greife zum Handy. "Wir kommen später, fangt schon mal an", sage ich. Dann hake ich Irma unter. "Lass uns schnell noch einen Kaffee trinken. Ja, schnell. Ich bin nun mal ein Kind dieser Zeit."